Hierzu haben wir Professor Dr. Axel Hegele, der seit über zehn Jahren zertifizierter Berater der Deutschen Kontinenz Gesellschaft ist und seit Januar 2020 als Belegarzt am DRK-Krankenhaus Biedenkopf arbeitet, interviewt. Der Facharzt für Urologie, der zusammen mit Dr. Matthias Theiß und Dr. Rainer Häußermann das Urologische Zentrum Mittelhessen führt, spricht über Risikofaktoren und Behandlungsmöglichkeiten von Inkontinenz.
Wie viele Menschen leiden in Deutschland an Inkontinenz?
In Deutschland sind ca. 10 Millionen Menschen betroffen, wobei die Dunkelziffer wesentlich höher ist.
Warum ist Inkontinenz ein Tabuthema? Hat sich das zu Zeiten von Corona noch verstärkt?
Eigentlich wird einem durch die Welt-Inkontinenz-Woche schon bewusst, dass das Thema Harninkontinenz in der ganzen Welt ein großes Problem ist. Leider ist es ein absolutes Tabuthema, es geht um den Intimbereich und ist somit schambehaftet. Die Beschwerden verursachen einen hohen Leidensdruck und man kann nur dazu raten, dass man sich an einen Urologen oder Gynäkologen wendet oder mit seinem Hausarzt darüber spricht. Nur so kann geholfen und das Leiden gelindert werden. Viele Betroffene isolieren sich, weil für sie ein Treffen mit Freunden oder ein Stadtbummel zur Tortur wird. Gerade in Zeiten von Corona kommt es verstärkt zu sozialer Isolation. Das führt dazu, dass ohne ärztliche Behandlung natürlich auch die Kosten für Betroffene, die jede Menge Hygieneartikel kaufen, extrem hoch sind. Häufig lässt sich Inkontinenz mit Medikamenten sehr gut behandeln bzw. diese verbessern auf jeden Fall die Situation.
Wir haben auch in diesem Jahr unsere geplante Informationsveranstaltung aufgrund der wieder steigenden Corona-Zahlen in den Herbst/Winter verschieben müssen – werden aber früh genug den neuen Termin bekannt geben.
Sind Frauen oder Männer häufiger von Inkontinenz betroffen?
Man kann wirklich von einer Volkskrankheit sprechen, von der 25 Prozent der Frauen und 10 Prozent aller Männer betroffen sind. Bei Frauen ist dies oft bedingt durch Geburten und die damit verbundene Belastung des Beckenbereichs und des gesamten Beckenbodens.
Ab welchem Alter steigt das Risiko an Inkontinenz zu erkranken? Gibt es hierfür Risikofaktoren?
Ist bei den 20-30 jährigen Frauen jede Zehnte betroffen, sind es ab dem 80. Lebensjahr 40 bis 50 Prozent. Zu den sogenannten Risikofaktoren zählen das Alter, Übergewicht, die Anzahl der Geburten (dabei die Höhe des Gewichtes des Kindes), falsches Trinkverhalten, psychische Faktoren sowie urologische Erkrankungen. Bei Männern kommt es meist erst ab dem 50. Lebensjahr zur einer Art der Harninkontinenz (z.B. durch eine Prostatavergrößerung) oder nach erfolgten Operationen (z.B. radikale Entfernung der Prostata oder der Harnblase).
Welche Formen von Inkontinenz gibt es?
Es gibt verschiedene Formen der Inkontinenz und teilweise auch Mischformen. Bei der Belastungsinkontinenz, die früher als Stressinkontinenz bezeichnet wurde, funktioniert der Verschlussmechanismus der Harnröhre nicht mehr einwandfrei, so dass beim Husten, Niesen, Lachen, Heben oder sportlichen Betätigungen ungewollt Harn verloren geht. Bei der Drangsymptomatik (mit oder ohne Inkontinenz) baut sich der Harndrang so schnell auf, dass Betroffene es häufig nicht mehr rechtzeitig zur Toilette schaffen. Bei der neurogenen Inkontinenz ist das Nervensystem verletzt (z. B. Querschnittslähmung).
Wenn man Harn oder Stuhl nicht mehr halten kann. Was kann man vor dem ersten Besuch eines Urologen tun?
Wenn man diese Beschwerden hat, sollte man einen Urologen, Gynäkologen oder den Hausarzt kontaktieren. Wichtig ist es auf jeden Fall, dass man das Gespräch sucht und der Problematik durch viele Fragen auf den Grund geht. Wir behandeln immer erst konservativ, erstellen eine Anamnese. Der Betroffene führt Protokoll, es wird geschaut, wie oft der Betroffene am Tag die Toilette aufsuchen muss. Wie viel Urin verliert er, welches anhand von Vorlagentests gewogen wird. Erst dann schaut man, ob es ein Blasenvorfall (Erkrankung des Harntraktes, bei der sich die Harnblase in Richtung Beckenboden verschiebt) ist und wir führen z. B. eine Blasenspiegelung oder einen Ultraschall durch. Es gibt zudem die Möglichkeit urodynamische Untersuchungen durchzuführen, bei denen man mit Hilfe von Drucksonden und Elektroden die Funktionsweise der Harnblase untersucht.
Welche Behandlungsmethoden bieten Sie an?
Wir, Dr. Matthias Theiß, Dr. Rainer Häußermann und ich, die das urologische Zentrum Mittelhessen leiten, und als Belegärzte im DRK-Krankenhaus Biedenkopf tätig sind, bieten alle Behandlungsmethoden an: konservative Behandlungen wie Beckenbodengymnastik, Medikamente, Ernährungsumstellung, aber auch das Spritzen von Botox (Botulinum Toxin) in die Blase, welches für 8-12 Monate gegen Blasenschwäche helfen kann.
Professor Hegele, Sie halten auf der 62. JAHRESTAGUNG der Südwestdeutschen Gesellschaft für Urologie, die vom 22. bis 25. Juni in Koblenz stattfindet, und der 74.Jahrestgaung der Deutschen Gesellschaft für Urologie im September 2022 gleich zwei Vorträge. Es geht einmal um den Nutzen des MRT´s in der Diagnostik (Fusionsbiopsie) des Prostatakarzinoms als auch um ein neues Medikament beim Prostatakarzinom – also Versorgungsforschung mit Relevanz für die tägliche Tätigkeit mit den Patienten?
Was kann sich der Laie darunter vorstellen?
Wir haben eine Versorgungsstudie mit Patienten mit Prostatakarzinom zum Medikament Apalutamid durchgeführt. Das Medikament ist bereits zugelassen und wurde in Studien selektiv getestet. Allerdings werden in diesen Studien nicht alle Patienten abgebildet, z. B. keine Betroffenen über 80. Wir haben mit 9 niedergelassenen Ärzten geschaut, wie Patienten, die z. B. Diabetiker sind, dies vertragen. Dabei ist es ganz wichtig, dass die 90 Betroffenen das Medikament auf jeden Fall erhalten hätten und wir mit unserer Studie nicht in die Behandlung aktiv eingreifen, sondern Schlüsse daraus ziehen und die Ergebnisse anderen Urologen auf dem Kongress zur Verfügung stellen. Man spricht hier auch von „Real Life Data“, wir behandeln schließlich nicht in Studien, sondern versorgen unsere Patienten im täglichen Leben!
Wie kann ein Prostatakarzinom erkannt werden?
Im DRK-Krankenhaus Biedenkopf setzen wir auf ein ganz besonderes Verfahren – multiparametrische MRT (mpMRT) und Fusionsbiopsie, bei dem sich mit hoher Sicherheit Prostatakrebs frühzeitig und zielgenau aufspüren lässt. Bei der Fusionsbiopsie führen wir zunächst eine mpMRT durch. Die Aufnahmen werden dann bewertet und tumorverdächtige Bereiche der Prostata markiert. Anschließend führen wir eine Ultraschalluntersuchung (Sonographie) durch, deren Aufnahmen mit denen der gekennzeichneten mpMRT übereinandergelegt werden (Bildfusion-Fusionsbiopsie). Diese Art der Untersuchung hat mein Team bereits über 250-mal im DRK-Krankenhaus Biedenkopf durchgeführt. Die Diagnostik ist einfach genauer und es können zahlreiche Biopsien verhindert werden.